Simplification Bias, Andreas Wagener, nerdwärts.de

Wie der Simplification Bias unseren Sinn für gute Entscheidungen trübt

Natürlich sollte man nichts verkomplizieren. Oft sind ja einfache Lösungen durchaus sinnvoll. Aber angesichts der Komplexität unserer Umwelt neigen wir offenbar dazu, Probleme auf vermeintlich eindeutige Ursachen zurückzuführen. Dieser „Simplification Bias“ bestimmt zunehmend den gesellschaftlichen Diskurs, führt aber auch in Managementfragen zu schlechten Entscheidungen.

Das regelmäßig schlechte und über die Jahre immer noch schlechter werdende Abschneiden der Deutschen bei internationalen Sportwettkämpfen, bei Olympia sowie bei Welt- und Europameisterschaften liegt natürlich daran, dass wir „keinen Bock mehr auf Leistung haben“, was sich ja auch in der Abschaffung des Wettkampfcharakters der Bundesjugendspiele zeigt. Oder? 

Und ja, nach einigen Messeattacken in der jüngeren Vergangenheit, erscheint es als probates Mittel, das Mitführen von Klingen mit mehr als 6cm Länge unter Strafe zu stellen. Das wird potenzielle Gewalttäter sicherlich in die Schranken weisen.

Simplifizierung führt zu Fehleinschätzungen

Vermeintlich naheliegenden Gründe werden als absolut und ausschlaggebend betrachtet. Das Problem ist dabei, dass man somit die eigentlichen Ursachen aus dem Blickfeld verliert und eine Problemlösung tatsächlich in weite Ferne rückt. Beispiel Bundesjugendspiele – ist es nicht eher ein Problem, dass die Vereinsstruktur im Sportbereich sich seit Jahren in einem Prozess der steten Auflösung befindet? Und waren nicht in der Vergangenheit die Sportvereine die eigentliche Keimzelle des Leistungssports? Während sich noch vor 30 Jahren alle in eine Vereinskultur einfügten, die regelmäßig Sport treiben wollten, boomen heute Fitnessstudios. Es wird ebenfalls immer schwieriger, Menschen insbesondere im Sportumfeld für ehrenamtliche Tätigkeiten zu gewinnen. Vor allem gut ausgebildete Trainer, die sich am Wochenende und nach Feierabend dem sportaffinen Nachwuchs annehmen, sind heute eine echte Mangelware. Die Frage, wie man die Vereinskultur und die Bereitschaft zum sportlichen Ehrenamt stärken könnte, ist allerdings deutlich schwieriger zu beantworten.

Gleichfalls erscheint es zweifelhaft zu glauben, dass jemand, der bereit ist, vorsätzlich Körperverletzung zu begehen, sich nun durch ein Messerverbot davon abhalten ließe. Das eigentlich zugrundeliegende Problem der offenbar steigenden Gewaltbereitschaft anzugehen, ist jedoch weitaus schwieriger und langwieriger.

Simplification Bias: Vereinfachung bis zur Verzerrung der Realität

Eigentlich liegt es auf der Hand, dass diese Forderungen und Ableitungen blanker Unsinn sind. Warum aber verfangen diese argumentativen Kurzschlüsse immer wieder? Das Phänomen lässt sich auch als „Simplification Bias“ bezeichnen. Damit wird die Neigung umschrieben, komplexe Sachverhalte über die Maßen zu vereinfachen, um sie auf diese Weise verarbeitbar zu machen. Grundsätzlich ist der Versuch, Komplexität zu reduzieren, ja nichts Schlechtes. Aber wenn wichtige Details und bestimmende Faktoren dabei auf der Strecke bleiben, mündet dieser Prozess in einer verzerrten Wahrnehmung der Realität.

Tatsächlich dürfte ein Großteil des gegenwärtigen gesellschaftlichen Erregungspotenzials darauf zurückzuführen sein. Der Simplification Bias führt zu Generalisierung und Stereotypisierung.  Wichtige Details werden ausgeblendet, (vermeintliche) Korrelationen werden mit Kausalitäten gleichgesetzt. Und im Zweifelsfall sind wie immer die Grünen schuld (früher Merkel).

Simplification Bias im Unternehmen

Was im gesellschaftlichen Kontext zu Verwerfungen führt, trübt in der ökonomischen Sphäre den Entscheidungshorizont. Im Managementumfeld ist immer noch ein Bild des heroischen Lotsens vorherrschend, der Situationen schnell erfasst und darauf beruhend klare, eindeutige Entscheidungen trifft. Weit verbreitet ist auch das Mantra „besser falsche Entscheidungen als gar keine Entscheidungen treffen“. Detailversessenheit und langandauernde Meinungsbildung werden als Führungsschwäche ausgelegt. Rigoroses, schnelles Entscheiden und Durchgreifen gilt hingegen als Stärke und wird als „Macherqualität“ betrachtet.

Selbst wenn es dafür heute immer noch berechtigte Argumente geben mag, trifft dieses Führungsverständnis auf eine inzwischen deutlich komplexere Umwelt als noch vor wenigen Jahren. Immer kürzere Produktzyklen stehen zunehmend unberechenbaren externen (geopolitischen) Bedingungen gegenüber. Innovationen auf allen Gebieten – nicht zuletzt im Bereich der Digitalisierung und des maschinellen Lernens – führen zu äußerst volatilen Entscheidungsszenarien. Damit werden auch die Auswirkungen von (falschen) Entscheidungen komplexer. Einerseits erschwert dies die spätere Bewertung, die unternehmerische Evaluation, und damit auch die Zuweisung von Verantwortlichkeiten sowie die Identifizierung von Ursachen, erheblich. Andererseits legt dies nahe, dass allzu simple Entscheidungen vermutlich der Komplexität des Szenarios nicht gerecht werden.

Langfristige Folgen falscher Entscheidungen in Phasen kurzer Entwicklungszyklen

Folgen könnten zu kurzfristige Orientierungen sein, dort wo stattdessen langfristige Perspektiven angebracht wären. Fehlende Flexibilität und mangelnde Anpassungsfähigkeit drohen. Und schließlich besteht die Gefahr, dass dies in einer erheblich reduzierten Innovationskraft mündet: Wer einmal den Weg in die falsche Richtung eingeschlagen hat, muss fürchten, abgehängt zu werden, weil man durch eine spätere Korrektur, angesichts der skizzierten erhöhten Entwicklungsgeschwindigkeiten der Unternehmensumwelt, nicht mehr in der Lage ist, die ursprüngliche Fehlentscheidung zu kompensieren.

Womöglich erleben wir gerade einen entsprechenden Prozess bei der deutschen Automobilindustrie. Das Festhalten am Verbrenner kann auch als Simplifizierung des Entscheidungsraumes gelesen werden, der sich zu sehr an nationalen Gegebenheiten ausrichtete und durch entsprechende inner-gesellschaftliche Strömungen sowie nationale ideologische Diskurse flankiert wurde. Im Gegenzug unterschätzte man vielleicht die Wirkungsmacht der sich rapide ändernden globalen Haltung gegenüber E-Autos sowie die enorme Innovationsfähigkeit in Asien und Amerika auf diesem Gebiet.

Wie sollte man dem Simplification Bias entgegentreten?

Wie also könnte man in diesen Zeiten in den Unternehmen dem Simplification Bias entgegenwirken? Auch darauf gibt es sicherlich keine einfache Antwort. Nicht zuletzt ist dies eine Kulturfrage. Sicherlich mit verbreiterten Entscheidungskanälen und „divers“ – im Sinne unterschiedlicher Kompetenzen – angelegter Expertise. Um diese zur Geltung zu bringen, bedarf es allerdings veränderter Entscheidungsstrukturen, die diese Kompetenzen auch angemessen integrieren. Zweifelsohne steigt mit der Erweiterung des Beteiligtenkreises die Gefahr, dringend notwendige Entscheidungen zu „zerreden“. Also müssen Instrumente und Verfahren geschaffen werden, die diesen Tendenzen entgegenwirken. Eine Etablierung einer effizienten Kultur der kritischen Reflexion und die Förderung systemischen Denkens innerhalb der Mitarbeiterschaft ist ein langfristiger Prozess, der entsprechende Führungsmodelle voraussetzt. Dieser kulturelle Wandel muss eben auch organisatorisch begleitet werden und sich in angepassten Strukturen widerspiegeln.

Datengetriebene Methoden und maschinelles Lernen gegen Simplification Bias

Zum anderen bieten aber gerade auch die aktuellen technologischen Entwicklungen Ansätze, um Simplification Bias in der Entscheidungsfindung abzubauen. Auch wenn diese bisher nur sehr selten und zögerlich aufgegriffen werden. Die Verwendung datengetriebener Methoden in der Entscheidungsfindung könnte neue Möglichkeiten eröffnen, die entstandene Komplexität beherrschbar zu gestalten. Dazu gehören Szenario-Planungen, flankiert durch virtuelle Simulationen oder die Verwendung von Predictive-Analytics-Werkzeugen in der strategischen Planung. KI könnten helfen, die Komplexität von Märkten, Kundenbedürfnissen oder operativen Prozessen sichtbar zu machen und blinde Flecken zu minimieren. Auch bei der strategischen Entscheidungsfindung ließen sich somit Produktivitätssteigerung realisieren.

Entscheidend dabei ist allerdings der richtige Umgang mit diesen technologischen Instrumenten. Zum einen muss sichergestellt sein, dass der Mensch im Fahrersitz bleibt. Das erfordert unter anderem auch eine entsprechend aufzubauende Kompetenz. Zum anderen kann gerade die falsche „Fütterung“ der KI, ebenso wie ungenaues Prompting, zu einer Verstetigung des Simplification Bias führen.

Auch wenn solche Ansätze für Managementprobleme derzeit noch kaum entwickelt sind: Datengetriebene Methoden, KI und maschinelles Lernen, könnten perspektivisch Verzerrungen reduzieren und für eine Bewältigung des Information Overflow in komplexen Entscheidungsumfeldern sorgen.

Das setzt allerdings neben dem entsprechenden Kompetenzerwerb auf Managementebene auch die Einsicht in das Kernproblem des Simplification Bias voraus: für komplexe Probleme gibt es selten einfache Lösungen.

Mehr zum Thema: Vortrag/Keynote von Prof. Dr. Andreas Wagener: „Von Cyborgs und Digitalen Lebewesen: Wie generative KI&VR menschliches Leben (und Sterben) verändern“:

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