Angesichts des enormen Veränderungspotenzials, das ChatGPT, Perplexity & Co für die Arbeitswelt bergen, stellt sich die Frage, wie man diese Instrumente der generativen KI sinnvoll in den Arbeitsalltag integriert. Einen entsprechenden Analyseansatz bietet das Kategorisierungsmodell der „Cyborgs und Zentauren“.
Mit den beiden Begriffen „Cyborgs“ und „Zentauren“ werden unterschiedliche Nutzungsweisen von Künstlicher Intelligenz im Arbeitsalltag umschrieben. Damit lassen sich spezifische Arbeitsstrategien kategorisieren, die jeweils beschreiben, wie KI in der operativen Tätigkeit integriert wird. Ziel ist es, diese unterschiedlichen Herangehensweisen dann hinsichtlich ihrer Effizienz und Effektivität zu analysieren.
Diese Klassifizierung geht zurück auf eine Studie der Harvard Business School in Zusammenarbeit mit der Boston Consulting Group (BCG) aus dem letzten Jahr, die untersuchte, wie unterschiedlich Künstliche Intelligenz von Mitarbeitern eingesetzt wird und welche Formen der Zusammenarbeit am erfolgversprechendsten erscheinen.
Ausgangspunkt: Metriken in der Consulting-Branche
Zweifelssohne kam den Autoren der Studie dabei die schon lange betriebene „Metrisierung“ von Arbeitserfolgen in der Consulting-Branche entgegen. In großen Beratungsgesellschaften wird oft auf das berühmt-berüchtigte, meist alle zwei Jahre stattfindenden „Up-or-Out“-Karrieremodell zurückgegriffen, wonach Berater, welche innerhalb festgelegter Zeiträume nicht die nächste Karrierestufe erreicht haben, das Unternehmen verlassen müssen. Auf diese Weise soll die Motivation und der permanente Kompetenzzuwachs der Mitarbeiter sichergestellt werden. Nicht zuletzt, um hier eine transparente Entscheidungsgrundlage schaffen zu können, wird daraus meist ein detailliertes Messystem errichtet, das Vergleiche zwischen den Mitarbeitern, aber auch mit zurückliegenden Leistungen ermöglicht.
Untersucht wurde nun, auf welche Art und Weise typische Instrumente der (generativen) KI verschiedene Mitarbeiter für Arbeitsaufgaben genutzt worden – und wie erfolgreich und effizient diese jeweils damit waren. Dabei kristallisierten sich zwei Phänotypen für die Integration von Künstlicher Intelligenz heraus: einerseits die der „Zentauren“ und andererseits jene der „Cyborgs„. Beide beschreiben jeweils zwei grundsätzliche Verhaltensweisen zur Anwendung von generativer KI im Arbeitsalltag. Während der Begriff der Zentauren sich auf das Mischwesen der griechischen Mythologie bezieht, bezeichnet das Kofferwort Cyborg, geformt aus den englischen „cybernetic“ und „organism“, meist Menschen, mit technisch angereicherten oder veränderten Körpern. Während der Zentaur – deutlich sichtbar voneinander abgegrenzt – einen menschlichen Oberkörper mit einem Pferderumpf aufweist, können die Veränderungen des Cyborgs potenziell an allen Stellen des Körpers erfolgen.
Zentauren und Cyborgs: Zwei Modelle der KI-Integration
Dieser Unterschied in der Genese der Beiden Mischwesen wird nun für die Beschreibung unterschiedlicher Herangehensweisen bei der Verwendung von KI herangezogen:
Cyborgs integrieren ihren Aufgabenablauf vollständig und interagieren permanent mit der Technologie. Sie delegieren nicht einfach nur Aufgaben, sondern verflechten ihre Aktivität intensiv mit der KI. Die Künstliche Intelligenz übernimmt dabei die Rolle des Kompetenzträgers, der das spezifische Know-How hat und durch die Arbeitskraft „angezapft“ wird.
Zentauren entscheiden hingegen situativ, welche Aktivitäten sie delegieren oder selbst übernehmen auf der Grundlage der jeweiligen Stärken und Fähigkeiten. Der einzelne wägt also ab, was er selbst in der Lage ist, einzubringen und an welchen Stellen sinnvollerweise auf die KI zurückgegriffen wird. Es gibt keine vollumfängliche Verschmelzung. Mitarbeiter, die dieser Kategorie zuzurechnen sind, versuchen stets bei der Evaluation und Auswahl der Optionen im „Sattel“ zu bleiben. KI ist demnach in diesem Fall eher Assistent und Sparringspartner. Das Know-How wird eher beim Menschen verankert, Ideen werden durch Feedback der KI „gespiegelt“.
Wer ist erfolgreicher – Cyborgs oder Zentauren?
Bei der Beurteilung der erbrachten Leistungen zeigte sich, dass Berater, die standardmäßig generative KI einsetzten – also die „Cyborgs“ -, sich grundsätzlich bei klassischen (standardisierten) Beratungsaufgaben als erfolgreicher und effizienter erwiesen. Sie waren also etwa schneller bei Berechnungen von Kennzahlen oder wenn es galt, Excel-Sheets zu befüllen und zu analysieren.
Aber obwohl dieser Vorsprung für den überwiegenden Teil der Beratertätigkeiten nachgewiesen werden konnte: Bei Aufgaben außerhalb des klassischen Leistungsspektrums, sofern Informationen jenseits reiner zahlenbasierter oder analytischer Prozesse verarbeitet werden mussten, waren die Zentauren erfolgreicher, also wenn es insbesondere galt, mittels Kreativität Probleme zu lösen.
Sind Zentauren kreativer und innovativer?
Das mag als ein Fingerzeig zu interpretieren sein, wie wir grundsätzlich auf generative KI im Arbeitsalltag zurückgreifen sollten: Ohne Zweifel bestehen durch den Rückgriff auf in vielen Situationen Chance für Effizienzgewinne, für schnelleres, auch effektiveres Arbeiten. Gleichwohl tendieren die zugrundeliegenden Modelle oft dazu, sich an einem Art Durchschnitt zu orientieren. Sie basieren auf Wahrscheinlichkeiten und Passgenauigkeiten, die sie aus den gesammelten Daten berechnen. Sie favorisieren damit oft vermeintlich populäres und nicht unbedingt außergewöhnliches. Brillantes ist somit eher selten zu erwarten, stattdessen besteht die Gefahr von Qualitätseinbußen durch die Produktion von „Einheitsbrei“.
Vermutlich liegt die optimale Lösung in der Mitte, zwischen den Verhaltensweisen der beiden Grundtypen der Zentauren und Cyborgs. Generative KI kann gerade in der Schreibtischarbeit ein probates Mittel zur Effizienzsteigerung sein. Es besteht aber offensichtlich ein Trade-Off zu Kreativität und Innovation. Natürlich lassen sich die Gefahren des Mittelmaßes durch ein überlegteres und iteratives Prompting reduzieren. Aber in der Konsequenz bedeutet das, dass man in der Lage sein muss, erkennen zu können, wann situatives Abweichen von der Norm richtig und angebracht ist. Dies setzt jedoch eine tiefere Vertrautheit mit der Technik und eine ausreichende fachliche Kompetenz voraus, die erst erworben werden muss. Wenn aber gleich zu Beginn eine zu starke Verlagerung von Kompetenz auf die KI erfolgt, dürfte es schwer sein, ausreichende Fähigkeiten zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Systeme überhaupt zu erwerben.
Wie und wo sollen die notwendigen Kompetenzen erworben werden?
Folglich ist eine stufenweise Herangehensweise erforderlich, die durch den Einzelnen zu erlernen ist. Die Frage drängt sich dann natürlich auf, wann und wo das passieren soll. In der Schule? In der Berufsausbildung, an der Hochschule? Oder „on-the-job“, im Beruf? Bisher stehen wir bestenfalls am Anfang dieser Diskussion, die wir jedoch dringend führen sollten. Ein Thema, dem sich dieser Blog ebenfalls noch widmen wird.
Mehr zum Thema: Vortrag/Keynote von Prof. Dr. Andreas Wagener: „Von Cyborgs und Digitalen Lebewesen: Wie generative KI&VR menschliches Leben (und Sterben) verändern“:
Mehr Informationen zum Thema KI im Marketing finden Sie im Buch von Andreas Wagener Künstliche Intelligenz im Marketing, Haufe, Freiburg, 2023
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