Plattformökonomie, Andreas Wagener

Plattformökonomie als Geschäftsmodell

Der Begriff der „Plattformökonomie“ ist schon seit längerem in aller Munde. Wohl nirgends sonst wird die disruptive Kraft der Digitalisierung augenfälliger. Allerdings könnte die Dominanz der Plattformen bald durch ein andere digitale Errungenschaft abgelöst werden.


Die Nutzung und die Relevanz von Daten im Wirtschaftsleben hat nicht nur das operative Marketing verändert, sondern führte auch zu tiefgreifenden Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle im Ganzen. Den sogenannten „Plattformen“ ist es als einer neuen Gattung von Unternehmen gelungen, die bestehenden Strukturen aufzubrechen und sich selbst im Zentrum verschiedenster Branchen einzunisten.

Das Prinzip der Plattformökonomie

Oft wird in diesem Zusammenhang der Hinweis auf den US-Taxidienst „Uber“, ins Feld geführt, der als größtes Taxiunternehmen der Welt gilt, aber selbst kein einziges Taxi besitzt. Gleiches gilt für AirBnB oder Booking.com, die weltweit und in großem Maße Unterkünfte und Übernachtungsmöglichkeiten anbieten, jedoch selbst über keine eigenen Immobilien und Hotels verfügen. Und Google kann als wichtigster und größter Informationsanbieter der Welt gelten, beschäftigt jedoch keine Redakteure und produziert keine eigenen Inhalte. Dennoch haben sich all diese Unternehmen eine dominante Position in ihrem jeweiligen Markt erobert. Sie sind dort der zentrale Anlaufpunkt sowohl für Nachfrager als auch für die eigentlichen Anbieter. Sie haben es geschafft, sich als Zwischen- und Vermittlerstation, als „Intermediäre“, in die oft bereits jahrzehntelang ohne sie bestehenden Geschäftsbeziehungen einzuklinken und sich auf diesen Märkten unverzichtbar zu machen.

Plattformen als „Gatekeeper“

Der Schlüssel zu diesem Erfolg liegt in der Errichtung von Plattformen, die der Vernetzung der Marktteilnehmer auf beiden Seiten dienen. Damit wird die klassische Wirtschaftsbeziehung zwischen Produzenten und Abnehmern aufgebrochen. Die Produzenten als Eigentümer der „Hard Assets“, der „Produktionsmittel“ im klassischen Sinne, werden dabei ihres direkten Zuganges zu den Kunden beraubt. Stattdessen nehmen die Plattformen nun die maßgebliche Rolle als „Gatekeeper“ ein, kontrollieren damit den jeweiligen Markt und partizipieren an dieser Wertschöpfungskette auf Kosten der Produzenten, was sich bei diesen zwangsläufig auch in gesunkenen Margen bemerkbar macht.

Mehrwert durch Vernetzung

Diese Regeländerungen beeinflussen die Geschäftsstrategien grundsätzlich. Wettbewerb beruht dann weniger auf der Beschaffenheit der Produkte, eine Differenzierung erfolgt nicht allein anhand der Qualität der Produktmerkmale, sondern verstärkt über komplementäre Leistungen, insbesondere über diejenigen, die aus dem Charakter der Plattform resultieren: Produzenten und Konsumenten werden sich für die Plattform entscheiden, die ihnen die beste Vernetzung liefert. Für die Produzenten erhöhen sich damit ihre Absatzchancen, die Konsumenten erhalten auf diese Weise Zugriff auf ein möglichst großes Angebot, gleichzeitig wird der Markt für sie damit transparenter.

Netzeffekte: Standards schaffen

Ein wesentlicher Aspekt der Plattform besteht in der Schaffung von sogenannten „Netzeffekten“. Diese entstehen, wenn sich ein gemeinsamer Standard – wie ein übergreifendes Netz – etabliert und beruhen auf den wechselseitigen Auswirkungen einer Teilnahme an diesem für alle kompatiblen Standard. Am besten lässt sich dies mit der rationalen Wahl einer neu zu erlernenden Sprache erklären: Wer ökonomisch vorgeht, wird sich diejenige Sprache aussuchen, deren Erlernen es ihm gestattet, mit möglichst vielen Menschen zu kommunizieren – etwa Englisch, Arabisch, Spanisch oder Mandarin. Durch das Erlernen dieser Sprache profitiert man allerdings nicht nur selbst, auch alle anderen, die bereits diese Sprache beherrschen, ziehen einen Vorteil daraus, da sie nun mit einer weiteren, zusätzlichen Person kommunizieren können.

Standards reduzieren Risiko

Von der Einigung auf einen gemeinsamen Standard profitieren damit letztlich alle. Das hat unter anderem auch damit zu tun, dass auf diese Weise Marktsicherheit entsteht: Existiert nur ein einziger Standard, so besteht kein Risiko, auf das falsche Pferd zu setzen. In letzter Konsequenz bedeutet das aber auch, dass alle Beteiligten von einer Monopolisierung profitieren. Paradoxerweise haben also – entgegen der klassischen Markttheorie –alle, auch die Nachfrager, ein Interesse an einem eingeschränkten Wettbewerb auf diesen Netzwerkmärkten.

Plattformökonomie als Größenstrategie

Google, AirBnB, Uber & Co ist es gelungen, auf ihren Märkten entsprechende Standards zu schaffen, indem sie ihre jeweilige Plattform als die maßgebliche Stelle zur Marktkoordinierung etablieren konnten. Konzentriert sich die gesamte Nachfrage und das gesamte Angebot an einem zentralen Punkt, wird der Markt für alle effizienter. Angebot und Nachfrage können zielgenauer befriedigt werden. Es ist nicht notwendig, andernorts nach Marktpartnern zu suchen, das spart Zeit und senkt die Transaktionskosten. Alle Teilnehmer binden sich damit an die etablierten Plattformen. Für die Plattformbetreiber bedeutet dies, stets auf radikale Wachstumsstrategien zu setzen, um möglichst schnell eine ausreichende Größe zur Errichtung und Aufrechterhaltung eines Standards zu erreichen.

Die Relevanz von Daten in der Plattformökonomie

Daten und ihre Nutzbarmachung spielen in diesem Kontext ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die Plattformen funktionieren, weil sie die Bedürfnisse der Teilnehmer jeweils gut kennen, daraus ziehen sie ihre Vorteile als Mittler zwischen den Akteuren. Folgerichtig werden die meisten dieser Plattformen als Datensammelpools geführt, die nicht nur die Vernetzung der wechselseitigen Kundenbeziehungen protokollieren, sondern auch das Nutzungsverhalten und die Bedürfnisse sämtlicher Beteiligter detailliert erfassen.

Die Kraft der Disruption

Diese Plattformen zerstören tradierte Szenarien und stülpen den Märkten kompromisslos ihr Geschäftsmodell über. Die anderen Marktteilnehmer sind dadurch gezwungen, sich diesem Änderungsprozess zu beugen. Fast in jeder Branche sind derartige Entwicklungen denkbar oder bereits Realität. Neben den bereits genannten Unternehmen lassen sich als weitere prominente Vertreter etwa auch Amazon für den Handel und Facebook im Bereich der Kommunikation und der Sozialen Netzwerke nennen. Es dürfte oft nur eine Frage der Zeit sein, bis sich auch auf anderen Märkten Plattformen entwickeln. Darin liegt einerseits eine Chance für schnelle und zielbewusste Akteure, andererseits aber auch ein beachtliches Bedrohungspotenzial für die traditionellen Anbieter.

Plattform in der Nische

Plattformen können jedoch auch in Nischen funktionieren, was wiederum Perspektiven für neue, alternative Geschäftsansätze bietet. Durch die effiziente Zusammenführung von Nachfragen und Anbietern werden auf einmal Geschäftsmodelle möglich, die bislang nicht als wirtschaftlich galten. Zeitliche und örtliche Differenzen lassen sich durch ein digitales und breit distribuiertes Angebot überbrücken, was ebenfalls eine Senkung von Transaktionskosten nach sich zieht – also das Zustandekommen eines Abschlusses wahrscheinlicher macht. Das führt in der Summe dazu, dass auch Nischenprodukte für wenig Nachfrager profitabel angeboten werden können.

Individualisierung und Mass Customization

Bezog sich dies ursprünglich allein auf digitale Produkte, wie digitale Musik, Videos, Software oder eBooks, die aufgrund ihrer „immateriellen“ Beschaffenheit kaum Lager- und Vertriebskosten verursachen (der sogenannte „Long Tail“), entstehen heute immer mehr Plattformanbieter, die diesen Gedanken auf „greifbare“ Güter ausweiten und die sogar Personalisierung und Individualisierung von Produkten ermöglichen. Vorreiter in Deutschland wie „myMuesli“ ermöglichten es den Kunden, Produkte – in diesem Fall „Müslimischungen“ – selbst zusammenzustellen oder zu konfigurieren. Die höheren Preise rechtfertigen sich durch den hohen Individualisierungsgrad und die damit einhergehende tieferreichende Befriedigung der Bedürfnisse des einzelnen Nachfragers. Die Geschäftsmodelle haben sich inzwischen in vielen Segmenten bewährt, als Beispiele anführen lassen sich etwa „chocri.de“ für Schokolade, „MyBoshi.net“ für gehäkelte Mützen und „uniquefragrance.de“, bei dem man sich ein personalisiertes Parfum zusammenstellen kann – um nur einige zu nennen.

Plattformökonomie und 3D-Druck

Auch neue digitale, datenbasierten Produktionstechniken ermöglichen individuell gestaltete Angebote und Leistungen. Während Designer ursprünglich, um ihre Produkte zu verkaufen, gezwungen waren, in Vorleistung zu gehen, also Muster produzieren lassen und sich um eine Vertriebsorganisation kümmern mussten, ermöglichen die Fortschritte beim 3D-Druck heute potenziell eine individuelle und auftragsbezogene Produktion „on demand“.

Digitale Güter und Plattformen

Auch wenn diese Verfahren aktuell zumindest im B2C-Bereich noch in den Kinderschuhen stecken, leiten sich aus der Kombination mit Plattformökonomieansätzen hochinteressante Potenziale ab: Auf Plattformen wie „Shapeways.com“ können fertige Entwürfe – Alltagsgegenstände, Spielzeug, Schmuck – nun direkt durch Designer feilgeboten und von den Kunden gegen Gebühr „heruntergeladen“ werden, um diese dann am heimischen, mit 3D-Drucker ausgestatten Computer selbst auszudrucken. Unter Umständen ließen sich diese Dateien auch noch individuell modifizieren, so dass der Konsument sehr eng in den Produktionsprozess miteingebunden ist. Das vereinfacht es erheblich, derartige Ideen zur Marktreife zu bringen; das unternehmerische Risiko wird reduziert, da keine Vorabinvestitionen in die Produktfertigung oder die Verkaufskanäle notwendig sind.

Mikromarketing und Diversifizierung

Dieses, durch die Plattformen ermöglichte „Mikromarketing“ ist eine Errungenschaft der Digitalisierung, wobei hier anders als bei den großen monopolhaften Plattformen auch eine Diversifizierung des Angebotes bewirkt wird. Aber auch hier tragen Internet und Digitalisierung zu einer Koordinierungsleistung maßgeblich bei. Die Art und Weise, wie damit Märkte „gemacht“ werden können, hat tiefgreifende Auswirkungen, und zwar nicht nur hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Absatzkanäle. Das Prinzip der Plattformökonomie verändert damit auch den Kern des wirtschaftlichen Miteinanders von Grund auf.

Blockchain: Das Ende der Plattformökonomie?

Allerdings ist jeder technologische Trend stets durch eine weiterführende innovative Entwicklung latent gefährdet. Aktuell wird vor diesem Hintergrund oft auf das Prinzip der „Blockchain“ verwiesen, der Technologie hinter Bitcoin und Ethereum, womit eine dezentrale und autonome Netzwerk- und Marktorganisation möglich ist. Sofern wirklich – wie zumindest in der Theorie bei Bitcoin – kein Gatekeeper den Marktzugang kontrolliert, weil die Netzwerkleistung streng dezentral durch die Netzteilnehmer selbst und gleichberechtigt geschultert wird, könnte dies dazu führen, dass die revolutionäre Entwicklung der zentralistisch geprägten Plattformökonomie bereits selbst der folgenden, „disruptiven“ Revolution zum Opfer fällt. Dann könnten Systeme wie Bitcoin tatsächlich die Netzwerkmacht distribuieren und diese wieder zurück auf die einzelnen Teilnehmer übertragen.
Das zeigt, dass wir uns hier nicht am Ende einer Entwicklung, sondern eher noch ganz an deren Anfang befinden. Im Zeitalter der Digitalisierung wird damit der ständige Wandel zur einzigen Konstante auf den Märkten.

 

Der Beitrag ist ein Exzerpt aus:
Wagener, Andreas (2018): Marketing 4.0 In: Wolff, Dietmar / Göbel, Richard (Hrsg.). Digitalisierung: Segen oder Fluch. Wie die Digitalisierung unsere Lebens- und Arbeitswelt verändert, http://www.springer.com/de/book/9783662548400

 

Mehr zum Thema „Plattformökonomie & Blockchain“ hier:
Vortrag von Prof. Dr. Andreas Wagener nach, gehalten m Rahmen der jährlichen Vortragsreihe zur Digitalisierung der Fakultät Wirtschaft an der Hochschule Hof – „Digitale Wirtschaft, Industrie 4.0 und das Internet der Dinge“:

 

Blockchain und Industrie 4.0 – Das Ende der Plattformökonomie?


Prof. Dr. Andreas Wagener. Professur für Digitales Marketing: eCommerce & Social Media, Hochschule Hof

 

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2 Gedanken zu „Plattformökonomie als Geschäftsmodell

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