Der heutige Medienkonsum ist geprägt von einer Zersplitterung in kleinste Zielgruppenfragmente, sogenannte „Tribes“ – mediale Stammesgesellschaften, deren Verbreitung vor allem auch durch soziale Medien begünstigt wird. Doch wie will man diese in solch abgelegenen Gefilden noch erreichen?
Im siebten und letzten Teil der Reihe „Zielgruppenfragmentierung und Mediaplanung im digitalen Zeitalter“ beschäftigen wir uns mit der Zersplitterung der Zielgruppen in Stammesgesellschaften und der Möglichkeit diesem Phänomen mit den Instrumenten des „Influencer Marketing“ zu begegnen.
„Stämme“ in der Informationsgesellschaft
Die Soziologie vergleicht die Entwicklungen in der Informationsgesellschaft nicht selten mit der Bildung von „Stämmen“ oder „Clans“. Als Stämme werden soziale Gruppen verstanden, die sich nicht nur aus privaten oder familiären Gründen zusammenschließen, sondern vor allem auch, weil sie gemeinsame Ziele und Interessen verfolgen. Diese Stammesbildung wird tagtäglich sichtbar in der digitalen Welt, sie findet vor allem in Sozialen Netzwerken und digitalen Foren statt. Die Entwicklung von Social Media hat es ermöglicht, sehr schnell und einfach „peer groups“ zu errichten, die Stammesgesellschaften in vielen Punkten sehr ähnlich sind. Aufgrund des hohen Individualisierungsgrades in der heutigen Informationsgesellschaft hat sich im Internet eine Vielzahl solcher Stammesgesellschaften gebildet, die sich durch einen hohen Spezialisierungsgrad, aber auch durch einen Konsens innerhalb des Stammens hinsichtlich gemeinsamer Interessen, Werte und Ziele auszeichnen. Letztlich aber gilt: „A group needs only two things to be a tribe: a shared interest and a way to communicate.”
Stammesmitglieder erscheinen in dieser Welt als „Community Mitglieder“, „Freunde“, „Follower“ und „Abonnenten“ / „Likers“ – indem sie die gleichen Interessen und Werte teilen. Früher wurden Stämme durch geographische Begebenheiten begrenzt, heute eliminiert die digitale Vernetzung diese Beschränkungen. Die Stämme werden dadurch potenziell größer, aber auch die Vielfalt an Stämmen nimmt zu. Auch gibt es, anders als in herkömmlichen Stammesgesellschaften, in der „Sozialen Netzwerkgesellschaft“ keinen Hinderungsgrund gleichzeitig Mitglied mehrerer Stämme zu sein.
Stämme und Werte
Die Digitalisierung hat zwar zu einer Erleichterung bei der Koordinierung und Vernetzung von Kommunikation geführt, aber auch das ist angesichts der Dimensionenvielfalt der Fragmentierung nicht ausreichend, um diese Gruppen zu erreichen: Stämme unterscheiden sich teilweise erheblich voneinander und vergleichbare Stämme sind nicht immer an vergleichbaren Orten anzutreffen. Auch mögen bestimmte „Grundwerte“ – gemeinsame Interessen, Auffassungen, Überzeugungen, Tonalitäten – stammesübergreifend existieren, das bedeutet aber noch lange nicht, dass die einzelnen „Stammesmitglieder“ nicht in anderen Umgebungen davon abweichende „Werte“ vertreten können. Auch Stammeszugehörigkeiten klaffen an den Dimensionen der Fragmentierung auseinander. Es ist daher kaum möglich, mit allen Stämmen gleichzeitig und gleichartig zu kommunizieren.
„Häuptlinge“ sind gefragt: Tribalismus und Influencer-Marketing
Stattdessen bedarf es, um Aufmerksamkeit in Stammesgesellschaften zu erzielen, „Häuptlingen“, denen zugehört wird. Es geht dabei um die Identifizierung von Meinungsführern und Meinungsbildnern, den „Influencern“, die Teil dieser Stämme sind, aber aufgrund ihrer Reputation und ihrer Vernetzung, innerhalb und auch außerhalb des Stammes, eine Sonderstellung gegenüber den anderen Mitgliedern innehaben. Gelingt es Werbungtreibenden, diese Influencer für sich zu gewinnen, so erlangen sie damit Zugriff auf diese „entlegenen“ Zielgruppenstrukturen. Kommunikation erfolgt dabei indirekt, über die Influencer, die ihrerseits dann autonom die Distribution der Botschaften innerhalb des Stammes übernehmen. Durch die Integration der Influencer in das Stammesgefüge lässt sich dabei die Fragmentierung überwinden, da diese ja selbst die Stammesmerkmale aufweisen. Die Aufgabe der Werbungtreibenden besteht somit darin, diese Meinungsbildner und -führer zu ermitteln, sie für sich zu gewinnen und sie mit entsprechend adäquaten Instrumenten auszustatten.
Identifizierung von Influencern
Die Identifizierung von zum Leistungsportfolio passenden Stämmen und geeigneten Influencern kann mittels einschlägiger Social Monitoring Software erfolgen, wobei sich hier zunächst entsprechende Themen und Haltungen, etwa zu den Produkten eines Werbungtreibenden, über Opinion Mining / Sentiment Analysis ermitteln ließen. In einem zweiten Schritt würden die einflussreichen Personen identifiziert – anhand ihrer Zentralität, Betweenness sowie ihres Impacts –, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Anschließend müsste deren spezifische Netzwerkstellung innerhalb relevanter Stämme, also beispielsweise entsprechender Communities oder Untergruppen sowie auch innerhalb nur über Interessen und Werte verbundener „Gruppen“, bestimmt werden. Bei entsprechender Granulierung führt dies zu einer praktikablen Fokussierung auf die relevanten Kommunikationspartner. An die Stelle einer unüberschaubaren Zahl von Einzelpersonen würde eine handhabbare Größe von Influencern treten. Dadurch ließe sich dann eine „Defragmentierung“ der Zielgruppenkommunikation einleiten.
Neujustierung der Instrumente erforderlich
Erfolgreiche Kommunikationsplanung bedarf heute einer breiten Ausrichtung. Dies betrifft sowohl akademische Betrachtungen als auch die Sphäre der angewandten Kommunikation. Wenn herkömmliche Zielgruppenverständnisse nicht mehr greifen, vor allem, wenn sie aufgrund mangelnder Operationalisierbarkeit irrelevant erscheinen, sind Justierungen der verwendeten Instrumente vonnöten. Diese Konsequenz ist das Ergebnis einer Entwicklung, die aus dem Informationsüberfluss des digitalen Medienzeitalters, der daraus resultierenden Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Adressaten und einer schier unendliche Vielfalt an Kanälen herrührt und mit einer fragmentarischen Individualisierung des medialen Konsums einhergeht. Wo sich früher Rezipienten auf fest umrissene Medienkanäle aufteilten, versickern nun die Zugänge in einer absorbierenden kommunikativen Diaspora.
Fazit zur Beitragsreihe
Die Beitragsreihe die hier nun ihren Abschluss findet hat versucht, diese Fragmentierung entlang von fünf Dimensionen zu beschreiben – peer groups, content, channels, formats, behaviour – an denen moderne Instrumente der Kommunikationsplanung und -durchführung anzusetzen haben. Wichtig erscheint dabei, dass der ursprüngliche Mechanismus – „suche passendes Werbeumfeld für die anvisierte Zielgruppe“ – heute auf den Kopf gestellt wird. Auswahl und Nutzung von Medien verläuft nicht mehr linear, sondern – im klassischen Sinne des Wortes – disruptiv. Gleichwohl ermöglichen die technischen Gegebenheiten heute immer stärker eine Berücksichtigung dieser Situation. Als Beispiel mag das hier angeführte Targeting bzw. Real Time Bidding / Programmatic Advertising gelten, andere Ansätze wie die Ausrichtung an individuellen Nutzerpräferenzen und Netzwerkbeziehungen, wie durch Facebook praktiziert, können ebenfalls in diesem Licht betrachtet werden. Keiner der vorgestellten Ansätze zur operativen Nutzung kann alle fünf Dimensionen bedienen. Vielmehr bedarf es einer Kombination und Austarierung verschiedenster Maßnahmen um kommunikativ in der veränderten Umwelt bestehen zu können.
Die Rückschlüsse aus diesem Phänomen sind jedoch nicht nur technischer Art. Auch das mediale Geschäftsmodell verändert sich grundlegend, wenn individuelle Nutzerinteressen und -verhaltensweisen sich nicht mehr über ein einzelnes Medium bündeln lassen. An die Stelle der herkömmlichen „Medieneigner“ als Gatekeeper treten schon jetzt „Influencer“, in ihrem Mikrosegment einflussreiche Meinungsmacher, die es aus Sicht der Werbungtreibenden zu identifizieren gilt. Daraus sollte auch ein gewandeltes Verständnis des „Redakteurs“ im Medienunternehmen resultieren. Es reicht schon seit längerem nicht mehr aus, bloß „Content“ zu kreieren oder zu kuratieren. Stattdessen rücken Kompetenzen wie Moderations- und Netzwerkfähigkeit in den Vordergrund. Extrovertiertes Selbstmarketing muss viel deutlicher an die Stelle stiller Schreibtischarbeit treten, will man innerhalb dieser Netzkultur bestehen.
Die Entwicklung wird damit nicht abgeschlossen sein, die Individualisierung der Nutzer und die Fragmen-tierung der Zielgruppen wird sich mit zusätzlichen Medienkanälen wie den Wearables oder auch Datenimplantaten noch deutlich ausweiten. Diese Zusammenhänge mit den herkömmlichen Mitteln aus dem letzten Jahrhundert zu erfassen, zu beschreiben und nutzbar zu machen erscheint kaum möglich. Für eine sinnvolle praktische Kommunikationsplanung und ihre akademische Rezeption brauchen wir Alternativen.
Quellen:
Godin, Seth (2008): Tribes. We need you to lead us. London (eBook)
McLuhan, Marshall (2003): Understanding Media: the extensions of man. Corte Madera