Dimensionen der Zielgruppenfragmentierung: Zielgruppenfragmentierung und Mediaplanung (4/7)

Die Dimensionen der Zielgruppenfragmentierung

Erfolgreiche Kommunikationsplanung bedarf heute einer breiten Ausrichtung. Dies betrifft sowohl akademische Betrachtungen als auch die Sphäre der angewandten Kommunikation. Wenn herkömmliche Zielgruppenverständnisse nicht mehr greifen, vor allem, wenn sie aufgrund mangelnder Operationalisierbarkeit irrelevant erscheinen, sind Justierungen der verwendeten Instrumente vonnöten. Diese Konsequenz ist das Ergebnis einer Entwicklung, die aus dem Informationsüberfluss des digitalen Medienzeitalters, der daraus resultierenden Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Adressaten und einer schier unendliche Vielfalt an Kanälen herrührt und mit einer fragmentarischen Individualisierung des medialen Konsums einhergeht. Wo sich früher Rezipienten auf fest umrissene Medienkanäle aufteilten, versickern nun die Zugänge in einer absorbierenden kommunikativen Diaspora. Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, wird im folgenden ein Modell zur Erfassung dieser Trennlinien vorgestellt.

Im vierten Teil unseres Beitrags zur „Zielgruppenfragmentierung“ skizzieren wir heute die Dimensionen dieser Fragmentierung, die aus den Phänomenen der „Aufmerksamkeitsökonomie“ und der zunehmenden „Individualisierung der Informationsgesellschaft“ resultieren:

Zielgruppenfragmentierung: eine Bestandsaufnahme

Die zuvor skizzierten Phänomene – der Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Adressaten, die Individualisierung der Mediennutzung und die Konvergenz der Ausgabegeräte – führen in der Summe (und jedes für sich) zu einer Fragmentierung der Zielgruppen. Zusammenfassend lässt sich diese Fragmentierung in fünf Dimensionen gliedern: peer groups – content – channels – formats – behaviour

 

|hardcopy|2015/11/23 14:18:57 AWagener DOL-WAGENER

Dimensionen der Zielgruppenfragmentierung, (c) Andreas Wagener, 2015 (CC)

peer groups:

Die Interessen von Nutzern sind heute ungleich vielschichtiger. Das gilt sowohl für die Breite als auch für die Tiefe des Interessenspektrums. Dort wo sich Interessen, Neigungen, Werte und Kenntnisse Einzelner überlappen, entstehen „peer groups“, Verbünde von Interessenten, die sich aber oft nur situativ „clustern“ lassen, also nicht zwingend eine feste und bleibende Struktur bilden. In der digitalen Medienwelt zeigt sich dies etwa in geschlossenen Gruppen zu spezifischen Themen auf Facebook, LinkedIn und Xing, in einzelnen Threads von Foren oder auch in der Gefolgschaft der Abonnenten von Kanälen auf Youtube. Die Verbundenheit zu diesen spezifischen Motiven wird meist nicht auf andere Situationen und Verhaltensweisen übertragen. Sie formiert sich zunächst nur für diesen spezifischen Zweck. Angesichts einer schier unerschöpflichen Vielfalt von „Peer-Optionen“ ließe sich hier von einer „Atomisierung“ sprechen: Den Möglichkeiten der Spezialisierung von Mediennutzern in immer feinere Segmente sind keine Grenzen gesetzt. Im Gegenteil: die Digitalisierung ist Ursache eines immer weiter wachsenden Interessens-„Long Tail“, der als Katalysator eines fortschreitenden Partikularismus wirkt.

content:

Auch unterschiedliche Inhalte bzw. Inhaltsangebote an sich führen zur Fragmentierung der Nutzergruppen. Diese Dimension ist keinesfalls deckungsgleich mit der der Peer Groups. Vielmehr ist es möglich, dass Mitglieder ganz unterschiedlicher Peer Groups an den gleichen Inhalten interessiert sind – aber unter Umstän-den aus völlig anderer Motivation heraus.

Ein Artikel, der sich mit Tagespolitik auseinandersetzt kann die Aufmerksamkeit womöglich inhaltlich politisch sehr unterschiedlich orientierter Leser erregen. Die aufbereiteten Informationen decken z.B. unter Umständen sowohl ein entsprechendes Bedürfnis eines klassischen linken wie auch eines eher rechten gesellschaftlichen Spektrums ab. Bemerkenswert erscheint dabei, dass in der analogen Vergangenheit klassischerweise wohl meist nicht beide Peer Groups auf das gleiche Medium zugegriffen hätten – so wie es im klassischen Verständnis eben „den“ Spiegelleser und „den“ Leser des „Focus“ oder den der „FAZ“ und den „Der Zeit“ gab, denen man auch tendenziell unterschiedliche Werbeangebote unterbreitete. In einer von Algorithmen und Netzeffekten bestimmten Medienwelt, spielt die mediale Hülle aber eine untergeordnete Rolle. Der Zugang zu einzelnen Inhalten ist für alle offen, auch zu Artikeln von Medienmarken, die bislang nicht zu den individuell präferierten gehörten.

Während der Inhalt somit als Verbindungsglied zwischen verschiedenen Gruppen fungiert, grenzen sich die Mitglieder der selben Peer Group auf diese Weise auch gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern ab. Die Trennungslinien von Zielgruppen verlaufen also ebenso mitten durch klassische Nutzergruppierungen hin-durch. Eine Beschränkung allein auf gesellschaftliche Herkunft und soziale Verankerung greift zu kurz, wenn eine zielgenaue Kommunikation angestrebt wird. Stattdessen ist es Chance und Notwendigkeit zugleich bei der Adressierung von Zielgruppen auch auf eine Form des „Content Targeting“ zu setzen.

channels:

Der Begriff des „Medienkanals“ muss heute deutlich weiter gefasst werden. Auch hier scheinen die klassischen Begrifflichkeiten nicht mehr zu greifen. Neben der intermedialen Option – also der Entscheidung etwa zwischen TV, Print und Online als Mediengattung zur Verbreitung von Botschaften – und der intramedialen Option – also der Entscheidung für ein spezifisches Medium innerhalb einer gewählten Gattung – gibt es heute im Zuge der Digitalisierung noch eine Reihe weiterer Dimensionen von „media channels“. „Das“ Internet lässt sich in eine Kaskade weiterer Subnetze aufgliedern, von denen das „World Wide Web“ (WWW), als das „Netz der Websites“ durch entsprechende Web-Standards wie TCP/IP und http organisiert, nur eines unter anderen ist. Isoliert daneben stehen P2P-Netze, wie Torrent oder E-Donkey, Messenger- und Kommunikationsdienste, wie Skype oder WhatsApp, und auch die E-Mail-Technologie funktioniert zunächst unabhängig vom WWW und bildet einen eigenen, davon losgelösten Standard – eben ein eigenes Netz. Die nächste Ebene in dieser Hierarchie der Netze bilden unterhalb des WWW einzelne Websites, die wiederum nicht nur jeweils ein eigenes Netzgeflecht einzelner Webseiten (Webpages), sondern auch selbst eigene verzweigte personalisierte Netze darstellen – etwa die Websites Sozialer Medien wie Facebook. Wenngleich auch die anderen Subnetze des Internets weitere Unterebenen aufweisen können – z.B. geschlossene P2P-Netzwerke oder begrenzte E-Mailverteiler – so ist dieser „Strang“ doch deutlich größer und komplexer, was sich auch in einem noch weiterreichenden Detaillierungsgrad verdeutlicht.

Für die Adressierung von Zielgruppen ist diese Unterscheidung wichtig. Denn gerade soziale Medien wie Face-book, Instagram oder Youtube scheinen vielen Menschen als Informationsquelle ausreichend , ein Verlassen dieses Rahmens ist in der Tat oft auch gar nicht notwendig, weil außenstehende Informationen hier „hineingeteilt“ (shared) werden. Das muss, wie etwa im Falle von Videos auf Facebook, dann noch nicht mal durch Verlinkungen auf externe Quellen erfolgen, sondern kann stattdessen vollständig an Ort und Stelle und ohne einen Wechsel des Kanals, eingebettet im eigenen Facebook-Newsstream, geschehen.

Das Geflecht von Facebook-Profilen – persönlichen wie organisationellen – lässt sich somit als eigenes Netz und, aus Sicht der Informationssuchenden wie auch der Werbungtreibenden, als eine mögliche Alternative des hierarchisch eigentlich darüber stehenden WWW betrachten. Gestärkt wird dies durch die Tatsache, dass auch hier weitere Subnetze existieren, etwa in Form von geschlossenen Gruppen oder Kommentarthreads in Foren.

Wer Adressaten erreichen will, muss diese Fragmentierung der Kanäle notwendigerweise dabei miteinkalkulieren. Gewissermaßen steht das, was wir bisher als „intermedial“ bzw. „intramedial“ bezeichnet haben, nunmehr nur für die jeweils äußersten Pole einer Vielzahl von Entscheidungsebenen in der Wahl der Medienkanäle. Wenn die werbliche Media- Kommunikationsplanung diese „Zwischendecks“ ignoriert, drohen nicht nur erhebliche Streuverluste, sondern auch ein grundsätzliches Verpuffen jeglicher Kommunikationsmaßnahmen.

formats:

Schon seit jeher ließen sich Zielgruppen entlang ihrer „Mediennutzung“ klassifizieren. Gemeint mit diesem doch eher unpräzisen Begriff waren die Gattungen bzw. die Formate, mit denen Inhalte transportiert und konsumiert wurden. Auch wenn „Mediennutzung“ sicherlich breiter begriffen werden muss, wie auch dieses Kapitel zeigen soll, so ist unbestreitbar, dass es unterschiedliche Nutzertypen gibt, die sich nach dem Konsum von – gleicher – Information in unterschiedlichen „Darreichungsformen“ (Formaten) unterscheiden lassen. Während manche das geschriebene Wort bevorzugen, gibt es den schwerpunktmäßig „audiovisuellen“ Inhaltekonsumenten oder den regelmäßigen, auf akustische Übermittlung konzentrierten Radiohörer. Auch innerhalb der Gattungen bestehen unterschiedliche Formate. So ist es möglich, Informationen in einer Zeitung in ausführlicher oder kurzer Form, als Hintergrundartikel oder Kurzmeldung zu übermitteln. In den digitalen Medien als „den“ konvergenten Medien schlechthin, bestehen eine Vielzahl von Formatoptionen – Audio, Video, geschriebenes Wort.

Auch wenn wir gemeinhin inzwischen eine vollständig oder nahezu abgeschlossene Plattformkonvergenz attestieren, so bleibt festzuhalten, dass dies – wenn überhaupt – doch aktuell immer noch nur unter erheblichem Aufwand produktionsseitig geleistet werden kann. Natürlichen lassen sich Inhalte, auch in multimedialen Ausprägungen, inzwischen grundsätzlich auf allen Endgeräten darstellen. Dem Mediennutzer ist es möglich, sein Youtube-Video am Fernsehapparat genauso wie auf seinem Desktop- oder Tabletcomputer sowie auf seinem Mobiltelefon zu konsumieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Video auf einem Kanal eingebettet, gestreamed oder eigens zu diesem Zweck heruntergeladen und lokal gespeichert wurde. Allerdings bedürfen Inhalte nicht nur einer „medienneutralen“ Vorhaltung, sondern auch einer Endgerät gerechten Aufarbeitung, die unterschiedliche Bildschirmgrößen, Auflösungen oder Bandbreiten und inzwischen verstärkt auch Interaktionsmöglichkeiten berücksichtigen (z.B. NFC-Technologie, Proximity Marketing). Natürlich gibt es Ansätze wie „Responsive Design“ dessen Verwendung eine Website ohne zusätzlichen Programmieraufwand auf verschiedensten Endgeräten mit unterschiedlichen Bildschirmgrößen konsumierbar macht. Aber bislang haben diese ihre technische Adoleszenz noch nicht hinter sich gelassen, der Weg in den „Mainstream“ ist zwar vorgezeichnet, aber noch längst nicht bewältigt. Wenn jedoch nicht alle anvisierten Adressaten erreicht werden können, sei es aus abweichenden Gattungs- und Formatvorlieben oder aus technischen Gründen, trägt auch diese Formatvielfalt zu einer Zielgruppenfragmentierung bei, welche eine zielgerichtete Kommunikation nach herkömmlichen Muster zusätzlich erschwert.

behaviour:

Unterschiedliche Verhaltensweisen bei der Nutzung von Medien markieren eine weitere Trennlinie zwischen Zielgruppen. So kann das Nutzungsverhalten sogar bei ein und demselben Medium die Gruppenmuster auseinanderklaffen lassen: Zeitpunkt, Dauer, Frequenz, Intensität (Involvement) und Häufigkeit spezifischer Mediennutzung sind bereits eigene Zielgruppenmerkmale, die über Konsumbereitschaften bestimmen. Ein Live-Event im Internet, ein Webinar am Vormittag etwa, schließt die Erwerbstätigen oder diejenigen ohne Internetzugang am Arbeitsplatz aus. Allein dadurch entstehen bereits neue „Adressatencluster“. Ebenfalls verhaltensorientiert wird bei dem Kommunikationsansatz „der Lead Generation“ gearbeitet: Der Nutzer eines Fachartikels eines B2B-Mediums beispielsweise, dokumentiert sein hohes „Involvement“ als Medienkonsument dadurch, dass er diesen Artikel nicht nur sehr intensiv liest, sondern ihn auch in verschiedenen Sozialen Medien empfiehlt und zuvor, um überhaupt Zugang zu diesen Informationen zu erhalten, freiwillig die Prozedur einer Registrierung auf sich genommen hat, obwohl er weiß, dass damit seine Adressdaten in einen Werbeverteiler aufgenommen werden. Er „qualifiziert“ sich mit dieser Nutzungsintensität aber auch als besonders interessanter Kontakt für Werbungtreibende, die Produkte herstellen, mit denen sich der Artikel inhaltlich befasst hat. Durch sein Nutzungsverhalten kann er einer „veredelten“ Zielgruppe zugerechnet werden, die bereits ein gutes Stück des Weges von der Übermittlung der Botschaft hin zur „Conversion“, der Kaufentscheidung, zurückgelegt hat – dokumentiert durch die intensive Auseinandersetzung mit dem ins Auge gefassten Produkt. Eine spätere vertriebliche Kontaktaufnahme dürfte in diesem so definierten Personenkreis eine deutlich höhere Erfolgswahrscheinlichkeit haben.

Auch das Phänomen des „Second Screen“ verändert die Zuschneidung von Zielgruppen. Die damit gemeinte Parallelnutzung von Fernsehen und Computer, insbesondere mobiler Endgeräte wie Smartphone und TabletPC, hat zu einem grundlegenden Wandel des Medienkonsums geführt. Aufmerksamkeiten verschieben sich dadurch, gleichzeitig wird die Nutzung interaktiver und auch „hintergründiger“, weil Diskussionen zum konsumierten Thema möglich werden – und dies ohne Zeitverzug. Für die Werbewirtschaft bedeutet dies einerseits eine verringerte qualitative Werbewirkung des Kanals TV, aber gleichzeitig auch neue Chancen hinsichtlich der Kontaktqualität, wenn entsprechende Angebote unterbreitet werden, die gezielt auf die neuen Nutzungsgewohnheiten eingehen. Die stetig wachsende Zahl zur Verfügung stehender „Second Screen Apps“ belegt diesen Wandlungsprozess in der Praxis.

Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass wir Verhaltensweisen nicht nur derart konsequent und tiefgreifend, sondern sogar in Echtzeit bei der Zielgruppendefinition mit einbeziehen können. Ob durch „verhaltensskizzierende Dreisätze“ („Nutzer, die X gelesen haben, haben sich auch für Y interessiert“) oder durch persönliche und direkte Interaktion: das spezifische Nutzungsverhalten beim Medienkonsum ist fester Bestandteil der Konfrontation der Adressaten mit Werbemitteln im digitalen Umfeld und als Zielgruppendeterminante unerlässlich.

Für die Werbewirtschaft bedeutet dies: die Definition und Ansprache von Zielgruppen kann nicht mehr nach herkömmlichen Mustern erfolgen. Marketing-Mediaplanung und Mediengeschäftsmodelle müssen sich stattdessen an diesen Dimensionen ausrichten.

Der nächsten Teil dieser Reihe befasst sich mit den möglichen Antworten auf die Fragmentierung.

 

Quellen:

ARD/ZDF-Medienkommission (2014): ARD-ZDF-Onlinestudie.de. http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/
Hill, Obinwanne (2014): State of the Mobile Web. http://restive.io/insights/state-of-the-mobile-web-ee-Q1-2014.html
Sterling, Bruce In: Wired http://www.wired.com/2013/04/dead-media-beat-gary-p-hayes-platform-convergence/ 04.07.2013
TNS Infratest / Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) (2013): Relevanz der Medien für die Meinungsbildung, München

5 Gedanken zu „Dimensionen der Zielgruppenfragmentierung: Zielgruppenfragmentierung und Mediaplanung (4/7)

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